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Die Deutschen sitzen viel zu viel

16.11.2021

Auf der Arbeit, in der Freizeit: Die Deutschen sitzen immer länger. Die Sportwissenschaftlerin Birgit Sperlich erklärt, warum das fatal ist und welche Rolle Corona dabei spielt.

Wer im Homeoffice arbeitet, sitzt in der Regel länger als im Büro. Der Gesundheit ist das nicht förderlich.
Wer im Homeoffice arbeitet, sitzt in der Regel länger als im Büro. Der Gesundheit ist das nicht förderlich. (Bild: Pekic / istockphoto.com)

„Das ganze Elend der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen können.“ Dieses Zitat des französischen Mathematikers, Physikers und Literaten Blaise Pascal war in den ersten Lockdowns während der Coronapandemie oft zu lesen. „Ganz falsch“, dürfte dabei vermutlich die Sportwissenschaftlerin Dr. Birgit Sperlich gedacht haben.

Sperlich ist Mitarbeiterin am Institut für Sportwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Der Schwerpunkt ihrer Forschung befindet sich im Themenfeld des Bewegungsmangels und des sitzenden, in der Fachsprache „sedentären“ Lebensstils. Derzeit arbeitet sie an einer aktuellen Studie zu den Sitzzeiten allgemein als auch im Homeoffice mit, die in dem Report „Wie gesund lebt Deutschland?“ vorgestellt wurden. Ihr Fazit lautet: „Die Deutschen sitzen viel zu viel!“

Frau Dr. Sperlich: Der DKV-Report 2021 kommt zu dem Schluss, dass die Deutschen im Durchschnitt 8,5 Stunden am Tag sitzen. Warum ist das nicht gut? Beim Thema ‚Sitzen‘ ist klar: Die Dosis macht das Gift. Sitzen ist natürlich nicht grundsätzlich schlecht, allerdings ist es in unserem Alltag omnipräsent. Lange Sitzzeiten und zu wenig Bewegung stellen weitestgehend unabhängige Gesundheitsrisiken dar – in diesem Punkt ist die Studienlage ziemlich eindeutig. Wenn wir lange sitzen, verlangsamen sich Stoffwechselprozesse, was zu diversen Gesundheitsproblemen führen kann. Vor allem die üblichen Zivilisationskrankheiten wie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, Arteriosklerose, Fettstoffwechselstörungen, Krebs und Diabetes stehen in dem Verdacht, sich bei langen Sitzzeiten eher zu entwickeln – sogar, wenn sich die Personen trotzdem regelmäßig bewegen.

Im Vergleich zur letzten Untersuchung aus dem Jahr 2018 hat sich die durchschnittliche Sitzzeit um eine Stunde verlängert. Worauf ist das zurückzuführen? Wir können nicht genau sagen, ob diese Zunahme ein Trend unserer Zeit ist oder ob es sich dabei um die Folge der Coronapandemie mit all ihren Einschränkungen im Alltag handelt. Aber es spricht natürlich sehr viel dafür, dass es mit diesen Einschnitten unter anderem zu tun hat. Immerhin ist bei vielen Menschen über lange Zeit hinweg der Weg zur Arbeit weggefallen, Freizeitaktivitäten waren kaum noch möglich, und wer trotzdem Sport treiben wollte, musste sich selbst dazu motivieren – was auch nicht jedem gelingt. Wir sehen allerdings in anderen Studien, dass man das Bewegungsverhalten der Menschen in den Lock-Down-Phasen differenziert betrachten muss. Manche Menschen haben sich mehr bewegt als vor Corona, andere hingegen sind in ein Loch gefallen und habe ihre körperlichen Aktivitäten deutlich reduziert.

Während der Coronapandemie haben viele Menschen das Spazierengehen neu für sich entdeckt, viele fahren jetzt lieber mit dem Fahrrad ins Büro als mit dem ÖPNV. Ist das nicht eine gute Kompensation für das vermehrte Sitzen? Das hilft natürlich. Es sollten allerdings mindestens 150 bis 300 Minuten moderat-intensive Bewegung pro Woche sein, besser sogar mehr als 300, für einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt. Interessanterweise hat eine recht aktuelle Meta-Analyse festgestellt, dass das aktive Pendeln – sprich mit dem Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen – das Risiko für eine frühzeitige Sterblichkeit um neun Prozent reduzieren kann und dass aktives Pendeln vergleichbare gesundheitliche Auswirkungen haben kann wie ein moderates Ausdauertraining. Neuere Studien zeigen zudem: Um das gesundheitliche Risiko langer Sitzzeiten von mehr als acht Stunden am Tag wirklich auszugleichen, bedarf es einer täglichen Bewegungszeit von mindestens 60 bis 75 Minuten moderat-intensiver Bewegung. Das ist noch einmal mehr als die derzeit aktuellen Bewegungsempfehlungen. Sitzen kann somit zu einem von der moderat-intensiven Bewegung weitestgehend unabhängigen Risikofaktor für die oben genannten Erkrankungen betrachtet werden. Demnach bedarf es in unserem Alltag einer konsequenten Unterbrechung und Reduzierung von Sitzzeiten mit zumindest leicht intensiven körperlichen Aktivitäten, um das gesundheitliche Risiko zu reduzieren.

Gibt es altersspezifische Unterschiede? Sitzen junge Erwachsene auch so viel? Tatsächlich ist die Zeit, die junge Erwachsene sitzend verbringen, deutlich länger als der Durchschnitt aller Studienteilnehmerinnen und –teilnehmer. Sie sitzen länger auf der Arbeit und sitzen auch in der Freizeit länger vor dem Computer oder am Smartphone. So kommen beispielsweise die 18- bis 25-Jährigen auf durchschnittliche Sitzzeiten von 10,5 Stunden pro Werktag. Diese Zeit, die auf Selbstangaben basiert, ist wirklich alarmierend.

Und wie unterscheiden sich Männer von Frauen? Befragte Männer sitzen länger als die befragten Frauen, vor allem während der Arbeit und in ihrer Freizeit am PC. In konkreten Zahlen heißt dies: Männer sitzen mit 550 Minuten pro Werktag im Median mehr als eine Stunde länger als Frauen, die es im Median auf 480 Minuten bringen.

Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass in der Coronapandemie sehr viel mehr Menschen im Homeoffice arbeiten als davor? Dies ist wahrscheinlich ein Einflussfaktor. Unter den Befragten, die sich in einem Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis befinden, haben zum Zeitpunkt der Befragung 38 Prozent im Homeoffice gearbeitet. Bei diesen Personen lag der durchschnittliche Homeoffice-Anteil vor der Pandemie bei 28 Prozent. Zum Zeitpunkt der Befragung, die von März bis Mai 2021 stattfand, stieg der Homeoffice-Anteil bei ihnen auf 73 Prozent an. Gleichzeitig stellen wir bei Personen, die ausschließlich im Homeoffice gearbeitet haben, im Vergleich zu Personen, die teilweise im Homeoffice gearbeitet haben, höhere Sitzzeiten fest.

Warum ist das so? Viele Gründe liegen auf der Hand: kein Weg zu Kollegen, keine Wege zum gemeinsamen Mittagessen, keine Wege zum Besprechungsraum, keine Wege zum zentralen Drucker und so weiter. Bei den allermeisten Befragten wird alles, was man am Arbeitsplatz gebraucht hat, in der unmittelbaren Reichweite des Arbeitenden zu Hause gewesen sein. Zudem fällt der Weg zum Arbeitsplatz weg. Ein weiterer Grund dürfte auch in der Tatsache liegen, dass der coronabedingte Wechsel ins Homeoffice ziemlich plötzlich und natürlich recht unvorbereitet kam und nicht optimal auf der Bewegungsseite begleitet werden konnte. Da hatte vermutlich kaum ein Arbeitgeber die passenden Konzepte in der Schublade parat.

Wie könnten solche Konzepte aussehen? Das kann bei der Gestaltung eines bewegungsfreundlichen Arbeitsplatzes, beispielsweise mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch, anfangen. Viel wichtiger ist aber, das eigene Verhalten auch zu überdenken und sich zu fragen, wie man im Arbeitsalltag ganz bewusst Bewegungspausen einbauen kann. Dazu gehören dann auch Informationen darüber, wie für mehr Bewegung gesorgt werden kann, etwa indem man keine Online-Konferenzen abhält, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehrere Stunden lang quasi bewegungslos vor dem Rechner sitzen. Auch hier brauchen wir eine Art „Online-Konferenzen-Knigge“ mit regelmäßige Pausen, in denen jeder aufstehen und ein paar Schritte zurücklegen kann.

Sitzen im Auto, sitzen am Schreibtisch, sitzen vor dem Fernseher: Das moderne Leben scheint darauf ausgerichtet zu sein, dass man sich möglichst wenig bewegt. Welche Tipps haben sie für Bürobeschäftigte, wie sie das ändern können? Da gibt es natürlich die Klassiker, die eigentlich allen bekannt sein müssten: Die Treppe nehmen anstelle des Aufzugs, die Kollegin im Nachbarbüro nicht anrufen, sondern persönlich besuchen, beim Telefonieren aufstehen, den Mülleimer an der Tür und nicht unterm Schreibtisch platzieren, den zentralen Drucker nutzen, die zentrale Kaffeemaschine und nicht die persönliche verwenden und in der Mittagspause eine Runde um den Block gehen. Wichtig ist auch der aktive Weg mit dem Fahrrad oder zu Fuß ins Büro oder einfach – klassisch – eine Haltestelle früher aussteigen oder das Auto weiter weg parken. Damit ist schon viel erreicht.

Das lässt sich sicherlich noch steigern. Ja, es gibt schöne Beispiele unterschiedlichster Art. Umgebungsbedingungen können beispielsweise bewegter gestaltet werden, etwa durch eine Art Kugelspiel, das in langen Fluren von der Decke hängt, so dass die Beschäftigten hüpfen und dagegen schlagen können und sich vor allen Dingen einmal strecken. Oder ein Basketballkorb über dem Papierkorb, Linien auf dem Fußboden, die die Schrittlänge verändern, oder spielerische Hüpfkästchen – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auf dem Markt sind auch aufwändigere Schreibarbeitsplätze vorhanden, die zum Beispiel mit einem Laufband kombiniert sind, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeitweise nutzen können. Oder ein Pool mit Requisiten zur Bewegungsförderung, aus dem sich jeder nach Wunsch bedienen kann. Die Möglichkeiten sind in diesem Bereich schier unbegrenzt.

Das erfordert sicherlich ein Umdenken – sowohl bei den Beschäftigten als auch bei den Führungskräften. Ja, ein Umdenken in der Arbeitskultur ist dringend nötig, und die Führung sollte Vorbild sein. Das ist schon deshalb nötig, weil sich der Arbeitsplatz der Zukunft sicherlich von dem heutigen Modell unterscheiden wird. Menschen haben nicht mehr den einen Schreibtisch, an dem sie über Jahre arbeiten. Sie werden zwischen verschiedenen Plätzen wechseln und auch mehr Zeit im Homeoffice verbringen. Zum zweiten hat Bewegung auch ganz konkrete Auswirkungen auf den Arbeitserfolg. Wer sich bewegt und seinen Kreislauf in Schwung bringt, steigert damit seine Kreativität. Das kann in vielen Bereichen hilfreich sein.

Wenn ich jetzt trotzdem unter der Woche viel sitze, reicht es dann, überspitzt gesagt, wenn ich zur Kompensation am Wochenende einen Marathon laufe? Es ist natürlich besser, am Wochenende beispielsweise eine zweistündige Wanderung zu unternehmen, als auch an diesen Tagen sich nicht zu bewegen. Das kann den Bewegungsmangel unter der Woche allerdings nicht gänzlich kompensieren, weil in dieser langen Zeit unsere Stoffwechselvorgänge quasi einschlafen. Man tut sehr viel für seine Gesundheit, wenn man weniger sitzt und regelmäßige Bewegung in den Alltag integriert.

Kontakt

Dr. Birgit Sperlich, T: (+49) 0931 31-80527, birgit.sperlich@uni-wuerzburg.de

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Von Gunnar Bartsch

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