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„China ist nicht der böse Bube“

08.05.2018

Mehr Macht für den Staatschef, mehr Kontrolle über die eigene Bevölkerung, mehr Einfluss auf die Wirtschaft im Ausland: China sorgt für Schlagzeilen in den Medien. Was davon zu halten ist, erklärt Doris Fischer im Interview.

Doris Fischer, Inhaberin des Lehrstuhls für China Business und Economics, warnt vor einer Verteuflung Chinas. (Foto: Daniel Peter)

176 Millionen Überwachungskameras sollen aktuell in China in Betrieb sein; bis 2020 soll ihre Zahl auf 600 Millionen steigen. Kombiniert mit einer automatischen Gesichtserkennung sollen sie das Leben der Bevölkerung in den Worten der Verantwortlichen „einfacherer und sicherer“ machen. Gleichzeitig arbeitet die Regierung daran, eine Art „Soziales Ratingsystem“ für jeden einzelnen Bewohner einzuführen. Wer gegen Regeln verstößt, sinkt auf der Rangleiter nach unten und muss mit Konsequenzen rechnen. Von Widerstand gegen dieses gigantische Überwachungsprogramm ist wenig zu spüren.

Wie das zu erklären ist, haben wir die Professorin Doris Fischer gefragt. Sie hat an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg den Lehrstuhl für China Business und Economics inne und bereist das Land regelmäßig.

Frau Professor Fischer: Kann es sein, dass wir gerade erleben, wie sich George Orwells Vision von „1984“ in China verwirklicht? Das ist ein bisschen die Sorge, die wir alle haben. Aber diese Sorge sollte eigentlich nicht auf China beschränkt bleiben. China geht diesen Weg; viele andere Länder aber auch – wie uns der Facebook-Skandal gerade wieder deutlich gezeigt hat. Allerdings unterscheiden sich diese Länder in ihrer Motivation. China will nicht Orwell kopieren, sondern bestimmte Probleme auf diese Weise lösen.

Welche Probleme sind das? Das eine ist: Es gibt in China keine Kreditüberprüfung, wie beispielsweise bei uns die Schufa. Aus diesem Grund haben große Banken in China lange Zeit Privatpersonen und privaten Unternehmen keine Kredite genehmigt, weil sie deren Kreditwürdigkeit nicht einschätzen konnten. Das andere hängt damit zusammen, dass in China ein Vertrauen bildendes System fehlt. Wir verfügen über ein etabliertes Rechtssystem, das sich über viele Jahrhunderte entwickeln konnte, mit einem entsprechenden Vertragssystem. Jeder kennt die Regeln und hält sich im Normalfall daran, weil er weiß, dass diese Regeln notfalls eingeklagt werden können. Daran fehlt es in China.

Die Überwachung und die Einführung eines Social-Score-Systems sollen dieses Vertrauen bringen? Ja! Denn je stärker sich China international vernetzt und je schneller die Transaktionen werden, desto wichtiger ist ein System, das Vertrauen schafft. Dieses System soll das Rechtssystem ergänzen. Die Geschwindigkeit spielt dabei auch eine wichtige Rolle: China verändert sich aktuell so rasant, dass die Einführung eines modernen Rechtsstaates der Entwicklung des Landes nicht hinterherkommen würde.

Und die Bevölkerung steht dem aufgeschlossen gegenüber? Für die Chinesen ist das nichts Neues. Solche Systeme existierten früher auch schon – allerdings noch in Papierform und nicht so öffentlich. Da gab es beispielsweise in Studentenwohnheimen Aushänge, denen jeder entnehmen konnte, welche Studentin und welcher Student wie oft im Seminar gefehlt hatte und wer mit besonderen Leistungen glänzte. Neu ist jetzt, dass ein solches System flächendeckend eingeführt werden soll und dass es auch über die Sozialen Medien läuft. Aber auch das wird in China nicht wirklich abgelehnt. Viele Chinesen sehen eher die positiven Aspekte.

Uns hingegen fällt es schwer, die positiven Aspekte zu erkennen. Das ist unsere westlich geprägte Perspektive. Die chinesische Regierung will auf diese Weise eine Art Rechtsstaat einführen in einem Land, in dem man sich bisher oft irgendwie durchmogeln konnte. Die neuen Technologien sorgen dabei für mehr Effizienz. Mit ihrer Hilfe kann man Straftäter schnell identifizieren und ausfindig machen und anschließend ihrer Strafe zuführen. Das gefällt auch dem Großteil der Bevölkerung. Darüber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass China den Ehrgeiz besitzt, auf diesem Gebiet der Technologien weltweit führend zu sein. An einer effizienten Gesichtserkennung sind schließlich viele Länder weltweit interessiert; dahinter steckt ein riesiger Markt.

In Deutschland würde solch ein Überwachungs- und Bewertungssystem garantiert auf gewaltigen Widerstand stoßen. Trotzdem müssen wir einfach akzeptieren, dass viele Menschen in China dies System nicht als Problem ansehen. Das heißt ja nicht, dass wir dieses System ebenfalls akzeptieren müssen. Nur dass wir überlegen müssen, wie wir damit umgehen wollen. Und so ganz frei davon sind wir in Wirklichkeit ja auch nicht: Der Facebook-Skandal zeigt doch, dass wir in vielen Dingen arg naiv sind. Wir geben privat viele Informationen preis und fürchten den Staat. In China ist es eher umgekehrt. Dort sieht man den Staat in der Rolle, seine Bürger vor privater Kriminalität zu schützen. Und dazu trägt dieses System bei.

Das klingt so, als hätten Sie gegen dieses Modell im Prinzip nichts einzuwenden. Ich möchte natürlich nicht, dass wir dieses System bei uns einführen. Denn die Gefahr ist eine totale Überwachung – aus Angst vor Verbrechern und in dem Glauben: Wer sich richtig benimmt, hat auch nichts zu verbergen. Wobei sich dann die Frage stellt, wer eigentlich bestimmt, was richtig ist. Die Grenze dessen, was erlaubt ist, wird in China nicht wie in einer parlamentarischen Demokratie ausgehandelt. Da fällt dann der Dissident genauso darunter wie der Schwerverbrecher. Das ist beunruhigend.

Und jetzt kommt das große Aber? Genau. Denn ich möchte auch nicht, dass man jetzt China verteufelt und darüber vergisst, dass wir vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Wir werden China nicht zur Demokratie zwingen. Nur zu sagen: „Was ihr macht, ist George Orwell“, und nicht zu sehen, was bei uns läuft, ist naiv. Es gibt viele internationale Firmen, die momentan mit großer Begeisterung nach China sehen, und hoffen, dort an den dortigen Möglichkeiten mit Hinblick auf Big Data, künstlicher Intelligenz und Vergleichbarem teilzuhaben und zu profitieren. Für sie ist das sehr attraktiv.

Und wenn Chinas Volkskongress, wie jetzt geschehen, die Begrenzung der Amtszeit von Staatschef Xi Jinping aufhebt, ist das kein Grund zur Sorge? In der Tat, es ist jetzt möglich, dass Xi unbegrenzt wiedergewählt wird. Aber auch diese Fokussierung auf eine Person sehen wir nicht nur in China. Das finden wir ähnlich in der Türkei, in Ungarn oder in Russland. Ob das so reibungslos weitergeht, steht auf einem anderen Papier. Machtfülle bedeutet ja auch große Verantwortung und bringt Gefahren mit sich, wenn es mal nicht so gut läuft. Ob China in den nächsten Jahren nur durch sanfte Gewässer fährt, ist nicht sicher.

Wohin bewegt sich China Ihrer Meinung nach? Müssen wir Angst vor seiner zukünftigen Rolle in der Weltpolitik haben? Die Chinesen gehen davon aus, dass sie in Zukunft zu den führenden Nationen gehören werden; dementsprechend wollen sie auch mehr Einfluss auf die Weltpolitik haben. Das basiert auf der Annahme, dass Stabilität gewährleistet ist in China, und das Land den Übergang zu einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft schafft. Dafür braucht man eine friedliche Welt, die diesen internationalen Handel möglich macht. Ohne eine stabile globale Ordnung geht das nicht – und das ist ja auch der Wunsch Chinas.

Wird China dann die Rolle der USA in der Weltpolitik übernehmen? Mit der aktuellen Situation in den USA wächst für viele die Attraktivität von China. Nicht alle finden das System schlecht. Für uns mag das so aussehen, weil die Medien in Deutschland ein sehr negatives Chinabild transportieren, das allerdings stark überzogen ist. Gerade unter jungen Leuten herrscht große Begeisterung über die Dynamik in diesem Land. Wir sollten China nicht nur negativ sehen. Sein Einfluss wird wachsen, und das Land hat auch gute Seiten. China ist nicht der böse Bube, als der es gerne dargestellt wird.

Vielen Dank für das Gespräch.

Kontakt

Prof. Dr. Doris Fischer, Lehrstuhl für China Business and Economics, T.: +49 931 31-89101, doris.fischer@uni-wuerzburg.de

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