Intern
  • Drei Studierende vor der Neuen Uni am Sanderring.

Wenn Lesen viel Kraft kostet

25.02.2020

Für die Würzburger Lehramtsstudentin Tina Oberle ist das Vor- und Nachbereiten von Vorlesungen ziemlich anstrengend: Sie hat Legasthenie. Die Universität hilft ihr dabei, im Studienalltag besser klar zu kommen.

Lehramtsstudentin Tina Oberle im Universitätsgebäude am Wittelsbacherplatz, wo der Großteil ihrer Lehrveranstaltungen stattfindet.
Lehramtsstudentin Tina Oberle im Universitätsgebäude am Wittelsbacherplatz, wo der Großteil ihrer Lehrveranstaltungen stattfindet. (Bild: Robert Emmerich / Universität Würzburg)

Schon vor dem Abitur wusste Tina Oberle, dass sie Grundschullehrerin werden will. Denn Kinder findet sie einfach klasse: „Sie sind offen und aufgeschlossen und sie zeigen einem, wenn sie sich freuen!“ Erfahrungen in der Kinder- und Jugendarbeit hat sie in ihrer Heimatstadt Hof an der Saale gesammelt. Dort war sie lange Zeit ehrenamtlich tätig – etwa beim Schwimmtraining der Wasserwacht.

Fürs Studium hat sie die Uni Würzburg ausgesucht. Dafür gab es zwei gute Gründe: „Hier kann ich Sozialkunde als Hauptfach nehmen; das geht nicht an allen Unis.“ Außerdem habe die Würzburger Uni einen guten Ruf durch ihr Engagement für Studierende, die vor besonderen Herausforderungen stehen. Genau das trifft auf Tina Oberle zu: Sie hat eine isolierte Lesestörung. Das ist eine erblich bedingte Behinderung, die unter den Oberbegriff „Legasthenie“ (Lese- und Rechtschreibstörung) fällt.

Fakten zur Legasthenie

Wenn Kinder lesen und schreiben lernen, ist die Schrift für sie am Anfang ein unbekannter Code mit unbekannten Symbolen. Diesen Code entziffern und verinnerlichen sie in den ersten Schuljahren Schritt für Schritt. Legasthenie, eine genetisch bedingte Lese- und Rechtschreibstörung, erschwert diesen Lernprozess: Die Betroffenen können den Code nicht in der üblichen Art und Geschwindigkeit entziffern. So erklärt es der Bundesverband Legasthenie (BVL) auf seiner Webseite. Menschen mit Legasthenie sind normal oder überdurchschnittlich intelligent. Wie genau sich die Störung auswirkt, ist sehr individuell. Lese- und Schreibstörung können auch einzeln auftreten.

Tina tut sich schwer damit, beim Lesen die Wörter in Sinn umzuwandeln. „Das Lesen von Texten und die allgemeine Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen kosten mich mehr Zeit, Konzentration und Energie“, sagt die Studentin. Was für sie ebenfalls schwierig ist: In einer Vorlesung aufmerksam zuzuhören und gleichzeitig mitzuschreiben.

An der Universität gibt es einen Nachteilsausgleich

Um diese Einschränkungen auszugleichen, bekommt Tina an der Uni Würzburg Unterstützung, die an ihre Bedürfnisse angepasst ist. Wenn nötig, helfen ihr in den Lehrveranstaltungen Schreibassistenten. Das sind Studierende in höheren Semestern, die von der Uni als Hilfskräfte bezahlt werden und für Tina mitschreiben. Sie kann sich dann ganz aufs Zuhören konzentrieren. Diese Art der Assistenz ist bisweilen nötig, weil nicht alle Lehrenden ausführliche Unterlagen zu ihren Vorlesungen online stellen.

Tina bekommt außerdem bei Prüfungen 50 Prozent mehr Zeit und ihre Prüfungsaufgaben im Papierformat A3, damit sie den Text besser lesen kann. Mehr Zeit hat sie auch für Hausarbeiten. Die Uni stellt ihr zudem ein Diktiergerät, Vorlesesoftware und andere technische Hilfsmittel zur Verfügung.

Eigene Anlaufstelle für Studierende mit Behinderung

Für all diese Leistungen genügt es, das amtsärztliche Attest aus der Gymnasialzeit vorzulegen – die Uni Würzburg verlangt keine erneute Bescheinigung. Das ist nicht an jeder Universität üblich. „Wir akzeptieren ältere Atteste, weil eine Legasthenie im Lauf des Lebens erhalten bleibt. Sie muss nicht immer wieder neu diagnostiziert werden“, sagt Sandra Mölter. Sie leitet an der Uni Würzburg die Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten (KIS).

Sandra Mölter berät, unterstützt und kümmert sich darum, dass Studierende mit Handicap im Studium keine Nachteile hinnehmen müssen. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) die Uni Würzburg schon im Jahr 2012 als „legastheniefreundliche Hochschule“ ausgezeichnet hat.

Mit der Betreuung durch die KIS ist Tina Oberle sehr zufrieden. „Wenn es mal ein Problem gibt, ist Frau Mölter schnell für einen da. Ich habe ihr schon freitagnachmittags eine E-Mail geschickt, und am Samstag kam die Antwort.“

Praktika in Grundschulen absolviert

Mit Würzburg als Studienort ist Tina ebenfalls zufrieden. Das eher theoretisch ausgelegte Studium beinhalte auch ausreichend Praktika – für Tina sind das die Höhepunkte. Sie steht zwar erst vor dem vierten Semester, hat aber schon diverse Praktika und viele Unterrichtsstunden in Grundschulen absolviert. Auch Deutsch hat sie unterrichtet, was trotz ihrer Lesestörung kein Problem war, wie sie sagt.

Ein absolutes Highlight, das die Studentin erlebt hat: Als sie in einer Grundschule ein vierwöchiges Praktikum antrat, war die betreuende Lehrerin krank. Die Rektorin fragte sie, ob sie es sich zutrauen würde, die Klasse auch alleine zu unterrichten. Tina traute sich, und alles klappte gut – ein schönes Erfolgserlebnis.

Weblinks

Bericht des Bayerischen Fernsehens über Würzburger Studentinnen mit Legasthenie

Website der Uni-Beratungsstelle KIS

Fachkongress Legasthenie und Dyskalkulie

„Wissen schafft Chancen für alle“: So heißt das Thema des 20. Fachkongresses, den der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie in Kooperation mit der Universität Würzburg ausrichtet. Ein Kernanliegen des Kongresses ist es, den Austausch von Wissenschaft und Praxis zu fördern. Vom 20. bis 22. März 2020 werden im Zentralen Hörsaalgebäude Z6 am Hubland aktuelle Ergebnisse und Methoden zur Diagnostik und Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Legasthenie und Dyskalkulie vorgestellt.

Website des Kongresses

Von Robert Emmerich

Zurück