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Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn

27.02.2024

Parkinson, Tourette-Syndrom, Zwangsstörung: Ein internationales Studienteam hat bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen die fehlerhaft funktionierenden Verbindungen im Gehirn lokalisiert.

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Bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen ist die tiefe Hirnstimulation (THS) als Methode fest etabliert. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. (Bild: Daniel Peter / Universitätsklinikum Würzburg)

Bewegungsstörungen wie Parkinson und Dystonie, die durch Muskelkrämpfe gekennzeichnet sind, aber auch das Tourette-Syndrom und Zwangsstörungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle gehen darauf zurück, dass Gehirnregionen falsch verbunden sind.

Eine inzwischen bewährte Behandlungsmöglichkeit dieser Erkrankungen ist die tiefe Hirnstimulation – ein Verfahren, das im Volksmund auch „Hirnschrittmacher“ heißt. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern.

Der genaue Wirkmechanismus dieser Stimulation war bislang nicht bekannt. Im Fachjournal „Nature Neuroscience“ hat jetzt ein internationales Team unter Federführung der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Bostoner Brigham and Women’s Hospital eine einzigartige Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn veröffentlicht. An der Studie waren auch Forschende der Würzburger Universitätsmedizin beteiligt.

Kleiner Kern im Zwischenhirn als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Forschungen war ein kleiner, etwa ein Zentimeter langer Kern im Zwischenhirn, der Nucleus subthalamicus. In ihn werden die Elektroden implantiert, und er ist ein erfolgreicher Punkt für die tiefe Hirnstimulation sowohl bei Parkinson und Dystonie als auch bei Zwangserkrankungen und Tic-Störungen. Die Forschenden fragten sich: Wie kann es sein, dass sich über einen so kleinen Kern die Symptome derart unterschiedlicher Hirnfunktionsstörungen behandeln lassen?

Sie analysierten dann die Daten von 534 Elektroden, die bei 261 Patientinnen und Patienten aus der ganzen Welt in die rechte und linke Gehirnhälfte implantiert wurden. 127 von ihnen litten unter der Parkinson-Krankheit, 70 unter Dystonie, 50 hatten eine Zwangsstörung und 14 das Tourette-Syndrom.

Einen großen Teil der Parkinson-Fälle lieferte die Neurologische Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg (UKW). Die von Professor Jens Volkmann geleitete Klinik ist eines der führenden Zentren für tiefe Hirnstimulation in Deutschland. Volkmann ist außerdem Vorstandsvorsitzender der 2019 gegründeten Parkinson Stiftung.

Software erfasst die Lage der Elektroden

Um die exakte Lage der Elektroden zu erfassen, kam die Software LeadDBS zum Einsatz, die im Rahmen des Transregio-Sonderforschungsbereichs (SFB) TRR 295 ReTune weiterentwickelt wurde. In dem von der Charité Berlin und dem UKW koordinierten SFB werden seit vier Jahren Mechanismen und Funktionen der dynamischen neuronalen Netzwerke untersucht, um sie durch invasive oder nicht-invasive Hirnstimulation gezielt zu beeinflussen.

„Eines der wichtigsten Ergebnisse ist die Erkenntnis, dass vielen neurologischen und psychiatrischen Symptomen eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen entfernten Hirnregionen zugrunde liegt. Um diese Gehirn-Netzwerk-Störung optimal zu behandeln, ist die Lage der Elektroden sehr wichtig, denn schon kleinste Abweichungen bei der Platzierung können die gewünschten Effekte ausbleiben lassen“, sagt PD Dr. Martin Reich, geschäftsführender Oberarzt der Neurologischen Klinik am UKW.

Für jede Störung gibt es spezifische Projektionsfasern

Neben der genauen Lokalisierung ermöglichte die Software die Analyse des großen Kollektivs von Patientinnen und Patienten, um schlussendlich zu verstehen, welche Fasern über die tiefe Hirnstimulation moduliert werden.

Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander, ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt, die mit Regionen im Vorderhin verbunden sind, welche wiederum eine wichtige Rolle bei Bewegungsabläufen, Verhaltenssteuerung oder Informationsverarbeitung spielen.

Zusammengenommen beschreiben diese Schaltkreise eine Sammlung von dysfunktionalen Schaltkreisen, die zu verschiedenen Hirnstörungen führen. Durch die Stimulation der Schaltkreise können Blockaden moduliert werden, um schlussendlich die Symptome der Erkrankung zu lindern.

Dysfunktom: Gesamtheit der gestörten Hirnschaltkreise

„In Anlehnung an die Begriffe Konnektom – als die Beschreibung der Gesamtheit aller Nervenverbindungen im Gehirn – oder Genom als Sammelbezeichnung für die gesamte Erbinformation haben wir hierfür den Begriff Dysfunktom geprägt. Eines Tages soll dieses die Gesamtheit aller gestörten Hirnschaltkreise beschreiben, die als Folge von Netzwerkerkrankungen auftreten können“, erklärt Barbara Hollunder, Erstautorin der Studie und Stipendiatin des Einstein Center for Neurosciences an der Charité.

„Die Studie ist die Speerspitze des SFB ReTune und zeigt darüber hinaus unsere hervorragende internationale Zusammenarbeit, vor allem mit dem Center for Brain Circuit Therapeutics am Brigham and Women's Hospital in Harvard“, sagt Dr. Martin Reich. Der Neurologe hat dort selbst ein Jahr lang gearbeitet und pflegt eine sehr erfolgreiche Verbindung mit Dr. Andreas Horn, dem Letztautor der Studie und Professor für Neurologie an der Harvard Medical School. Gemeinsam haben sie bereits fünf hochrangige Publikationen über Gehirn-Netzwerk-Erkrankungen und tiefe Hirnstimulation veröffentlicht.

KI errechnet individuelle Stimulationsparameter

Bemerkenswert sei, dass in der Studie die klinische Methode der tiefen Hirnstimulation genutzt wurde, um neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu verbessern, mit denen wiederum die Versorgung der Patientinnen und Patienten optimiert werden kann.

Zusätzlich zur präzisen Platzierung beeinflusst die Feinabstimmung der Stromverteilung den Erfolg der Behandlung. Die elektrischen Impulse werden fortwährend über vier Kontakte auf der Elektrode ins umliegende Gewebe abgegeben und über Nervenbahnen an weitere entferntere Hirnareale geleitet.

„Welcher Kontakt mit wie viel Milliampere bestückt wird, müssen wir individuell testen“, erklärt Dr. Martin Reich – aber er fügt ein „noch“ hinzu: „Wir haben einen Algorithmus entwickelt, der bei jeder Patientin und jedem Patienten auf der Basis individueller Befunde und Bilder voraussagt, wie wir die elektrischen Impulse bei welcher Erkrankung optimal einstellen. Erste Tests in Würzburg bei der Behandlung der Parkinson-Symptome liefen sehr vielversprechend.“


Förderer der Studie

Forschende an zehn spezialisierten Zentren in sieben Ländern haben Daten für diese Studie bereitgestellt und zu den Ergebnissen beigetragen. Unterstützt wurden die Arbeiten unter anderem durch das Einstein Center for Neurosciences Berlin (ECN), das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), die Benign Essential Blepharospasm Research Foundation, die privaten Förderer Larry und Kana Miao, die Agence nationale de la Recherche, das NIHR UCLH Biomedical Research Centre, die Scuola Superiore Sant'Anna, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die Else Kröner-Fresenius-Stiftung, das Gesundheitsministerium Italiens, das Medical Research Council UK, die National Institutes of Health (NIH) und den New Venture Fund.

Publikation

Mapping dysfunctional circuits in the frontal cortex using deep brain stimulation. Nature Neuroscience, 22. Februar 2024, DOI: 10.1038/s41593-024-01570-1, Open Access https://www.nature.com/articles/s41593-024-01570-1

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Von Pressestelle Universitätsklinikum Würzburg

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