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  • Drei Studierende vor der Neuen Uni am Sanderring.

Es gab nicht nur die Roaring Twenties

05.11.2019

Würzburger Studierende der Europäischen Ethnologie/Volkskunde haben eine Ausstellung konzipiert, die sich mit Siedlungen der sogenannten Lebensreformer beschäftigt. Sie ist ab 18. November im Philosophiegebäude zu sehen.

Sie waren an der Konzeption der Ausstellung beteiligt (v.l.): Student Nils Waldmann, Dozent Felix Linzner und Studentin Alexandra Heimberger Ramirez.
Sie waren an der Konzeption der Ausstellung beteiligt (v.l.): Student Nils Waldmann, Dozent Felix Linzner und Studentin Alexandra Heimberger Ramirez. (Bild: Universität Würzburg)

Neue Entwicklungen polarisieren. Das ist beim Internet so. Und das war so bei der Dampfmaschine. Denn das technisch Neue geht mit sozialen Veränderungen einher. Stichwort: Beschleunigung. Heute wie damals finden sich Gegenbewegungen zum herrschenden Trend. So gründeten „Lebensreformer“ einst Siedlungen. Davon erzählt eine von Studierenden der Europäischen Ethnologie erarbeitete Ausstellung, die am 18. November um 17:30 Uhr im Philosophiegebäude der Uni eröffnet wird.

Vorläufer einer Schule für Physiotherapie

Zwischen den Ortschaften Gersfeld und Poppenhausen am Fuß der Rhöner Wasserkuppe zum Beispiel gründeten zwei Frauen 1923 die lebensreformerische Frauensiedlung „Schwarzerden“. „Dort schufen sie den neuen Beruf der ‚Sozialgymnastin‘, der die Bevölkerung für Gesundheitsthemen sensibilisieren sollte“, erzählt Alexandra Heimberger Ramirez, die im siebten Semester Europäische Ethnologie/Volkskunde studiert. Interessant: Während etliche lebensreformerische Projekte irgendwann wieder von der Bildfläche verschwanden, besteht die Schule von „Schwarzerden“ fort: „Und zwar in Form einer Physiotherapeutenschule.“

Der damalige technische Quantensprung gebar eine Sehnsucht „zurück zum Natürlichen“, erläutert Felix Linzner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie. Ideologisch gesehen handelt es sich bei der Lebensreformbewegung allerding um ein facettenreiches Phänomen: „Es gab zum Teil klare völkische Ausrichtungen.“ In seinem Seminar im Wintersemester 2018/2019 lernten die Studierenden die Bewegung in allen ihren Facetten kennen. „Ich wollte jedoch nicht, dass die Ergebnisse in eine Hausarbeit fließen, die dann in der Schublade verstaubt, so kam uns die Idee, eine Ausstellung zu realisieren“, sagt Linzner.

Gymnastik und Landbau

Mit einer weiteren Siedlung, in der nahezu nur Frauen zugange waren, beschäftigte sich Nils Waldmann, der im vierten Semester Europäische Ethnologie studiert. „Loheland“ hieß diese Siedlung nahe Fulda. „Anfangs ging es auch hier vor allem um Gymnastikbildung für Mädchen“, so Waldmann. Später wurden den jungen Frauen auch Handwerkskünste beigebracht. Schließlich begannen die Frauen, Felder nach den Regeln des biodynamischen Landbaus zu bewirtschaften: „Dabei halfen auch einige wenige Männer mit.“ „Loheland“ gibt es bis heute noch, ergänzt Felix Linzner: „Die Siedlung feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen.“

Heute wie damals gab und gibt es Gegenbewegungen mit auffallend rigider Moral. Auch das zu erfahren, fanden die Studierenden interessant. „Einige Anhänger der Lebensreformbewegung lebten vegetarisch, wobei sie gleichzeitig auch Alkohol ablehnten“, sagt Alexandra Heimberger Ramirez. Völkisch ausgerichtete Siedlungen wie der „Vogelhof“ hielten das „Germanentum“ hoch, sie waren rassistisch und biologistisch. Alexandra Heimberger Ramirez wurde durch das studentische Forschungsprojekt angeregt, darüber nachzudenken, wie Menschen, die sich als Teil einer Bewegung sehen, mit anderen Menschen umgehen, die der Bewegung nicht angehören.

Ausstellung auf Burg Ludwigstein

Die Ausstellung an der Uni Würzburg soll mindestens vier Wochen zu sehen sein. Parallel werden die 13 aus dem Seminar hervorgegangenen Poster ein ganzes Jahr lang auf Burg Ludwigstein ausgestellt. Dort befindet sich das Archiv der deutschen Jugendbewegung, mit dem die Würzburger Studierenden während der Arbeit an ihrer Ausstellung eng kooperierten. „Auf Burg Ludwigstein können wir auch einige Objekte zeigen“, sagt Heimberger Ramirez, die, was für sie eine aufregende Sache gewesen war, bei der Eröffnung der Ausstellung am 25. Oktober im Rahmen der Archivtagung eine kleine Rede hielt.

Was fast alle Studierenden ein wenig ins Schleudern brachte, war die Herausforderung, das reiche Wissen über lebensreformerische Siedlungen, das sie sich angelesen hatten, in einige knappe Zeilen fließen zu lassen. Denn Ausstellungen dürfen textlich nicht überfrachtet werden. Für Heimberger Ramirez war dies eine sehr wichtige Erfahrung gewesen: „Ich studiere im Hauptfach Museologie und habe vor, später einmal in einem Museum zu arbeiten.“ Deshalb war sie nach Abschluss des Seminars noch eine Weile auf Burg Ludwigstein tätig, wo sie im Archiv passende Ausstellungsobjekte zu den Postern suchte: „Auf der Burg zeigen wir zum Beispiel ein Lebensreformkleid.“

Und noch ein Problem bedurfte einer Lösung: Wie soll man das Poster bebildern? „Es gab in meinem Fall, also, was ‚Loheland‘ anbelangt, einfach sehr viele schöne Dokumente, die Auswahl fiel mir nicht leicht“, sagt Nils Waldmann. Auch er fand das studentische Projekt sehr bereichernd. Obwohl der 25-Jährige später einmal nicht im Museum arbeiten möchte. „Meine Leidenschaft ist die Raumfahrt“, verrät er. Das klingt erstmal sehr weit vom Thema der Ausstellung. Doch dem ist nicht so. Vielleicht, sinniert Waldmann, wird es auf dem Mond bald eine erste Siedlung geben. Als Volkskundler von Anfang an bei diesem Prozess mit dabei zu sein, das fände der Student grandios.

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