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  • Drei Studierende vor der Neuen Uni am Sanderring.

„Dschihadisten sind nicht verrückt“

08.11.2016

Wenn sich junge Leute für die Zwecke islamistischer Terroristinnen und Terroristen begeistern lassen, dürfe man sie nicht einfach als verrückt abstempeln: „Das wäre die falscheste Antwort“, so der Terror-Experte Peter Neumann bei einer Veranstaltung an der Uni Würzburg.

ZEIT-Campus Autorin Laura Cwiertnia im Gespräch mit Terrorexperte Peter Neumann. (Foto: Uni Würzburg)
ZEIT-Campus Autorin Laura Cwiertnia im Gespräch mit Terrorexperte Peter Neumann. (Foto: Uni Würzburg)

Wie kam es, dass der allseits als nett, freundlich und hilfsbereit beschriebene Riaz Khan am 18. Juli 2016 in einem Regionalzug kurz vor Würzburg einen schrecklichen Terrorakt verübte? Eine Antwort gibt es immer noch nicht. „Das bleibt der rätselhafteste Fall“, sagt Peter Neumann, Direktor des „International Center for the Study of Radicalisation“ am King’s College in London. Der Terror-Experte war zu Gast bei der Jubiläumstour des Magazins ZEIT Campus, die am 3. November 2016 an der Universität Würzburg Station machte.

Der Würzburger Axtattentäter war Neumann zufolge ein ungewöhnlicher Terrorist. Offensichtlich hatte er über das Internet Kontakt zum islamistischen Terrorismus aufgenommen. Und er radikalisierte sich anscheinend sehr schnell. Solche „Blitzradikalisierungen“ sind laut Neumann äußerst selten. In 80 bis 90 Prozent aller Fälle dauere es viele Monate, wenn nicht sogar Jahre, bis sich ein junger Mensch rekrutieren lasse.

Erforschung des Phänomens seit 2012

Bei der bundesweiten Jubiläumstour zum zehnjährigen Bestehen des Studentenmagazins sprach Redakteurin Laura Cwiertnia mit Neumann darüber, warum sich junge Leute für den islamistischen Terrorismus begeistern lassen. Am „International Center for the Study of Radicalisation“ wird das Phänomen seit 2012 untersucht. „Damals fiel einem unserer Doktoranden auf, dass junge britische Muslime nach Syrien gegangen waren, um dort zu kämpfen“, berichtete der Politikwissenschaftler. Was sie in Syrien erlebten, posteten sie auf Facebook, Instagram und Twitter.

Inzwischen sind an Neumanns Institut 750 Kämpfer mit ihren Online-Profilen bekannt. Mit 150 dieser Dschihadisten ergaben sich Gespräche über das Internet, die sich teilweise über mehrere Monate hinzogen. Ende 2014 fuhren Neumann und sein Team sogar an die türkische Grenze, um mit einigen Kämpfern persönlich zu sprechen.

Radikalisierung geschieht in vielen kleinen Schritten

Für Neumann ergibt die Analyse der Lebensläufe, dass junge Leute, die sich für Islamismus und islamistischen Terrorismus rekrutieren lassen, keineswegs „verrückt“ sind: „Ihnen dies zu unterstellen, wäre die falscheste Antwort.“ Radikalisierung sei ein Prozess, der aus vielen, zum Teil sehr kleinen Schritten bestehe. Westliche junge Menschen würden oft Dschihadisten, weil sie im Islamismus etwas finden, was ihnen die Gesellschaft nicht bietet: „Gemeinschaft, Struktur und Orientierung.“

Gleichzeitig könnten sie in islamistisch-terroristischen Gruppierungen ihr jugendliches Bedürfnis nach Rebellion ausleben. Die Theologie, also das religiöse Fundament des Kampfes für einen „Gottesstaat“, spiele im Vergleich dazu eine untergeordnete Rolle.

Sozial „abgehängte“ junge Leute als Zielgruppe

Während laut Neumann in England an nicht wenigen Universitäten dschihadistische Strukturen existieren, werde in Belgien, Frankreich und Deutschland vor allem dort rekrutiert, wo sich junge Leute „sozial abgehängt“ fühlen und sich entsprechend verhalten. Neumann: „Zwei Drittel der deutschen Syrienkämpfer sind polizeibekannt, ein Drittel ist vorbestraft, wobei im Durchschnitt jeweils fast acht Straftaten begangen wurden.“ Unter den 800 deutschen Syrienkämpfern sei, anders als in Großbritannien, nicht einmal eine Handvoll Akademiker.

Mit welchen einfachen Mitteln und Strategien „abgehängte“ junge Leute für den Islamischen Staat gewonnen werden, zeigt das Beispiel eines Rekrutierers aus Molenbeek. Er zog mit einer Suppenküche durch das belgische Problemviertel. Dabei agierte er Neumann zufolge wie ein Sozialarbeiter: „Er hat junge Leute angesprochen und sie ernst genommen.“ Allmählich gelang es ihm, zu einer Art Vaterfigur für die jungen Männer zu werden und sie ideologisch zu beeinflussen: „Indirekt hat er dadurch bis zu 50 Syrienkämpfer rekrutiert.“

Einfache Strategie zur Prävention

Aus der Beobachtung heraus, wie junge Leute dazu gebracht werden, im Zeichen des Islamismus Straf- und Gewalttaten zu begehen, resultiert für Neumann eine im Grunde sehr simple Strategie für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. „Man muss Leute ansprechen, bevor es die Extremisten tun“, so der Wissenschaftler. Ein Appell, der nicht zuletzt an Lehrkräfte und Sozialarbeitende gerichtet ist.

Aktuell sieht Neumann allerdings, dass eher weniger als mehr für radikalisierungsgefährdete junge Menschen getan wird. Der Rechtspopulismus, der mit jedem terroristischen Anschlag in Europa wächst, grenze immer mehr junge Menschen aus und bringe sie zu der Schlussfolgerung: „Wir haben keinen Platz in dieser Gesellschaft.“ Und das spiele den Islamisten in die Hand.

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