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  • Drei Studierende vor der Neuen Uni am Sanderring.

Doppelter Blick auf Verwundbarkeit

23.04.2019

„Gemischtes Doppel II - Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Verwundbarkeit“: Unter dieser Überschrift steht eine Ringvorlesung der Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“.

Menschen sind verletzlich. Das macht sie angreifbar, aber auch berührbar. Daher geht die Ringvorlesung den zerstörerischen und den schöpferischen Wirkungen der Vulnerabilität nach. Mit aktuellen, teils brisanten Themen wird die Ringvorlesung vom Sommer 2018 jetzt mit fünf neuen „gemischten Doppeln“ theologisch und humanwissenschaftlich fortgesetzt. Ein roter Faden entsteht aus der Frage, welche interkulturellen Kompetenzen angesichts globaler Verwundbarkeiten heute erforderlich sind.

Die Ringvorlesung wird von der Würzburger Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“ gemeinsam mit der Domschule Würzburg durchgeführt. Die Forschungsgruppe arbeitet interdisziplinär zu Fragen, die besonders gesellschaftsrelevant sind. In regelmäßigen Treffen beleuchten die Beteiligten die menschliche Verwundbarkeit aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die Vorträge finden jeweils donnerstags von 19:00 bis 20:30 Uhr statt; Veranstaltungsort ist das Burkardushaus, Am Bruderhof 1, in Würzburg. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich.

Das Programm

2. Mai 2019: Zärtlichkeit – die Schwester der Verletzlichkeit. Prof. DDr. Isabella Guanzini (Graz) und Dr. Jutta Czapski (Berlin)

Im Wissenschaftsprofil von Isabella Guanzini spielen interkulturelle Kompetenzen eine entscheidende Rolle. Sie studierte und lehrte an verschiedenen Orten in Italien und Österreich, bevor sie 2016 Leiterin des Instituts für Fundamentaltheologie der Universität Graz wurde. Sie begreift Zärtlichkeit als eine „sanfte Macht“, die nicht zur Abwehr von Verwundbarkeit auf Abgrenzung und Härte setzt, sondern interkulturelle Konflikte durch entgegenkommende Kommunikation zu lösen vermag. Zärtlichkeit wird als geistige Haltung zurückgewonnen, die das kreative Potential der Verständigung zwischen heterogenen Kulturen freisetzt.

Jutta Czapski, Philosophin sowie Trauma- und Kunsttherapeutin in einem Kinderhospiz, bringt Perspektiven von Emmanuel Levinas ein, dessen radikales Denken von der menschlichen Verwundbarkeit ausgeht.  Es wurzelt in der Erfahrung verfolgter und zerstörter Leben im sogenannten Dritten Reich, dessen Utopie von Homogenität („das deutsche Volk“) Heterogenes ausschloss und extrem gewaltsam gegen „Andere / Fremde“ vorging. Levinas entwickelte eine Alternative: von der Selbstbehauptung zur Hingabe, von der Identität zur Inter-Subjektivität, von der Gewalt zur Menschlichkeit. Zärtlichkeit zeigt sich als Schwester der Verletzlichkeit, die sich für Nähe und Beziehung als Antwort auf das Antlitz des Anderen einsetzt.

16. Mai: Topographie des Traumas – wie entsteht Resilienz? Prof. Dr. Maike Schult (Marburg) und Eva Barnewitz (Konstanz)

Eva Barnewitz, Psychologin und Systemische Therapeutin, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin von „victims voices – vivo international e.V.“ der Universität Konstanz in Deutschland, aber auch global unterwegs, beispielsweise in Äthiopien, Ruanda, Syrien. Schwerpunkte liegen auf Diagnostik und Therapie für Folteropfer sowie auf der Aus- und Weiterbildung von Traumatherapeutinnen und -therapeuten, und zwar direkt vor Ort in Krisengebieten. In ihrem Vortrag untersucht sie die „Wunden der Seele“ und fragt, wie Kriegserfahrungen, Folter und sequenzielle Traumatisierungen von Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, überwunden werden können. Anhand konkreter Beispiele erläutert sie, wie ein kompetenter Umgang mit kultureller Komplexität und Heterogenität aussieht.

Maike Schult, die an der Universität Marburg Praktische Theologie lehrt, geht aus theologischer Sicht auf die Frage ein, wie aus Traumatisierung Resilienz erwachsen kann. Sie versteht traumatische Ereignisse wie Flucht und Krieg als Zäsuren, die sich über einen langen Zeitraum, mitunter für immer, in die Lebensgeschichte einschreiben – eine Topographie des Traumas entsteht. Können Religionen spezifische Ressourcen anbieten? Wo stößt religiöse Kommunikation auf Grenzen? An biblischen Beispielen zeigt Maike Schult Möglichkeiten der Bewältigung, die die Angst vor weiterer Verwundung durchleben und offene Kommunikation eröffnen – damit sich das gewaltpotenzierende Trauma nicht bis in die dritte und vierte Generation fortschreibt.

6. Juni: Sexueller Missbrauch – Gewalt überwinden, Leben eröffnen. Mary Hallay-Witte (Hamburg) und Elisabeth Kirchner (Würzburg)

Mary Hallay-Witte arbeitete von 2010 bis 2018 als Präventionsbeauftragte des Erzbistums Hamburg und ist jetzt als Theologin an der Medical School Hamburg interdisziplinär in der Forschung tätig. In ihrem Vortrag gibt sie ausgehend von der katholischen Kirche Einblick in die globale Bedeutung sexuellen Missbrauchs sowie in die systematische Vertuschung als globalem Phänomen: Institutionen versuchen sich in ihrer Verwundbarkeit zu schützen, indem sie die Opfer von Gewalt und Missbrauch erneut victimisieren. Wie kann man solche Gewaltstrukturen durchbrechen? Wie kann aus einer traumatisierenden Institution eine Kultur der Aufmerksamkeit wachsen, die Missbrauch verhindert und Leben eröffnet?

Elisabeth Kirchner arbeitet bei der Fachberatungsstelle Wildwasser Würzburg, einer Institution, die vor 35 Jahren als eine der ersten in Deutschland sexualisierte Gewalt thematisiert und öffentlich gemacht hat. Seit einigen Jahren berät und begleitet Wildwasser auch Mädchen und Frauen aus anderen Kulturkreisen, die auf ihrer Flucht besonderen Verwundbarkeiten ausgesetzt waren und Gewalt erleben mussten. Sensibilität für kulturelle Heterogenität ist hier unerlässlich. Welche kulturellen und religiösen Differenzen zeigen sich im Blick auf sexualisierte Gewalt? Und welche interkulturellen Kompetenzen brauchen Beraterinnen und Berater, die Menschen begleiten, die auf der Flucht traumatisiert wurden?

27. Juni 2019: Homosexuelle Liebe – Verletzlichkeit hoch zwei. Dr. Andreas Heek (Düsseldorf)und Petra Dankova (Würzburg)

Der internationale Studien- und Berufsweg öffnete Petra Dankova die Augen für die multiple Vulnerabilität sexueller Minderheiten, beispielsweise von LGBT-Aktivistinnen in Uganda. In ihrer Lehrtätigkeit im Fach Soziale Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt beleuchtet sie Menschenrechtsverletzungen im globalen Vergleich und schaut dabei besonders auf Intersektionalität. Das „Minority Stress Model” zeigt, welchen spezifischen Belastungen und Gefährdungen sexuelle Minderheiten ausgesetzt sind: Verletzlichkeit hoch zwei.

Auch in der katholischen Kirche wird homosexuelle Liebe in den letzten Jahren kontrovers diskutiert, und das weltweit. Der Soziologe Didier Eribon schreibt: „Schwul zu werden heißt, sich ins Feuer von Vokabeln zu stellen, die man tausendmal gehört hat und deren verletzende Kraft man schon lange kennt.“ Was sagt die Theologie heute zu homosexueller Liebe und wie positioniert sie sich gegenüber entsprechende Menschenrechtsverletzungen? Und was bedeutet diese Positionierung für die Situation homosexuell Liebender? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Dr. Andreas Heek, Leiter der Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz.

4. Juli 2019: Familienbande – Wunden verbinden. Prof. Dr. Hildegund Keul und PD Dr. Thomas Müller (beide Uni Würzburg)

Die Vereinten Nationen konstatieren, dass fast 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. So wenig fassbar diese Zahl erscheint, so konkret ist das Leid der einzelnen Menschen. In migrierenden Familien erhöht sich die Vulnerabilität dramatisch: sei es, dass eine Flucht sie über Jahre oder für immer  auseinanderreißt, sei es, dass einzelne Familienmitglieder Gewalt erfahren oder getötet werden. Die Wunden, die dabei entstehen, verbinden die Menschen innerhalb ihrer Familien unheilvoll miteinander, aber auch die Familien untereinander: Bindungstraumata, die sich über Generationen auswirken, zeigen, wie Wunden Menschen über Generationen miteinander verbinden, aber auch die wachsende Notwendigkeit, die entstandenen Wunden zu verbinden. Zudem führt Migration auch in Europa zu einer Pluralisierung multikultureller Familienbindungen. Diese sind besonders von Vulneranz bedroht, entwickeln aber auch die Fähigkeit, gezielt Verwundungen zu verhindern oder notfalls zu verbinden.

„Familienbande“, die in globalen Umbrüchen wurzeln, bedürfen humanwissenschaftlicher wie theologischer Analysen. Der humanwissenschaftliche Beitrag zeigt auf, welcher Art familiäre Wunden im globalen Kontext sind und wie sie entstehen können. Der theologische Beitrag geht der Frage nach, wie sich hier Vulnerabilität und Gewaltbereitschaft zueinander verhalten („Von der Heiligen Familie zum Rosenkrieg?“) und welche interkulturellen Kompetenzen die Pluralisierung multikultureller Familienbeziehungen erfordern.

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