Psychische Belastungen am Arbeits- und Ausbildungsplatz
In allen Bereichen der heutigen Arbeitswelt nehmen psychische Belastungen und Stress enorm zu. Neue Technologien, Rationalisierung und Flexibilisierung betrieblicher Prozesse sowie extremer Zeit- und Leistungsdruck prägen den Arbeitsalltag vieler Menschen. Angst um den Arbeitsplatz vergiftet zusätzlich das soziale Klima in vielen Unternehmen. Oftmals drücken maßlose Zielvorgaben selbst der Freizeit ihren Stempel auf und verhindern eine ausreichende Regeneration nach der Arbeit. Die Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, immer mehr zu arbeiten. Auch die Arbeit selbst hat sich radikal verändert. Hoher Verantwortungsdruck aber auch Monotonie zehren an den Nerven. Handy, Internet, E-Mail usw. - permanent überfluten uns Informationen und ständig sind wir verfügbar. Auch wer vorwiegend unter körperlichen Belastungen arbeitet, ist häufig Bedingungen wachsender psychischer Belastungen ausgesetzt. Von einer menschengerecht gestalteten, guten Arbeit sind wir heute weit entfernt.
Was sind psychische Belastungen?
Die Informations- und Kommunikationstechnologien verändern den Inhalt und Charakter der beruflichen Tätigkeit. Die Arbeit stellt oft mehr Ansprüche an das konzeptionelle Denken und an die Konzentrationsfähigkeit und sie nervt auch immer mehr: Die 32. E-Mail in den letzten 30 Minuten, die vierte SMS, das ständige Klingeln des Handys, die eingehenden Faxe usw. führen zu einer endlosen Reiz- und Informationsüberflutung. Der Stellenwert emotionaler Faktoren (z.B. Arbeitsengagement, Verausgabungsbereitschaft) wächst in der "schönen, neuen Arbeitswelt". Die Arbeit nimmt viel stärker von der gesamten Persönlichkeit Besitz und Arbeitszeit scheint keine Grenzen mehr zu kennen.
Psychische Vorgänge im Menschen sind all diejenigen, die mit Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Erinnern, Erleben und Verhalten zu tun haben.
Die Norm DIN EN ISO 10075-1 beschreibt psychische Belastungen als die von außen auf die Psyche einwirkende Faktoren. Beanspruchung meint hingegen, wie sich Belastungen auf den einzelnen Beschäftigten auswirken. Diese Auswirkungen sind nicht ausschließlich auf die Stärke der Belastung zurückzuführen, sondern hängen auch von individuellen Faktoren wie körperliche und seelische Verfasstheit ab. Wie ein Mensch Belastungen bewältigt, die aus der Arbeit resultieren, darüber entscheiden die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen. Soziale Unterstützung bei der Arbeit, Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung und Weiterbildungsangebote stärken diese. Die menschengerechte Gestaltung der Arbeitsaufgabe trägt dazu ebenso ganz wesentlich bei.
Die Balance muss stimmen
Der Beschäftigte kann durch die psychische Beanspruchung seine Arbeit als abwechslungsreich und anregend empfinden, weil er Erfolgserlebnisse hat und sich weiterentwickeln kann. Wird der einzelne Mensch jedoch über- oder unterfordert, so führt die psychische Belastung zu Fehlbeanspruchung. Diese äußert sich nach der DIN EN ISO 10075-1 durch psychische Ermüdung, ermüdungsähnliche Zustände wie Monotonie und psychische Sättigung sowie Stress. Häufig werden die Begriffe psychische Belastung und Stress gleichgesetzt. Es gibt zurzeit noch kein einheitliches Erklärungsmodell.
Formen und Folgen psychischer Fehlbelastung:
- Stress
- Psychische Ermüdung
- Ermüdungsähnliche Zustände
Stress
Stress ist zu einem der größten Gesundheitsrisiken in der modernen Arbeitswelt geworden. Dies ergab eine Untersuchung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Danach nehmen Leistungsverdichtung, Arbeitstempo und Zeitdruck ständig zu und lagen im Jahr 2000 deutlich höher als im Vergleichsjahr 1990.
Stress kennzeichnet ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitsanforderungen und den persönlichen Möglichkeiten (wie Leistungsfähigkeit, Zeit) diese zu bewältigen. Dieser Widerspruch wird als unangenehm erlebt und löst negative Gefühle wie Angst, innere Anspannung, Hilflosigkeit usw. aus. Die Stressforschung bezeichnet die schädlichen, den Menschen überlastenden Anforderungen als Distress, während die positiven, für das Leben notwendigen Reize und Anregungen Eustress heißen.
Die von der EU-Kommission verwandte Stress-Definition lautet: "Arbeitsbedingter Stress lässt sich definieren als Gesamtheit emotionaler, kognitiver, verhaltensmäßiger und physiologischer Reaktionen auf widrige und schädliche Aspekte des Arbeitsinhalts, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung. Dieser Zustand ist durch starke Erregung und starkes Unbehagen, oft auch durch ein Gefühl des Überfordertseins charakterisiert."
Von jedem Menschen wird Stress anders wahrgenommen und verarbeitet. Was für den einen bereits schwer belastend sein kann, empfindet der andere als Herausforderung oder anregenden "Kick". Offensichtlich spielen innere, psychische Prozesse eine wichtige Rolle, ob eine Situation als stressig erlebt wird. Die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, d. h. die erlernten Muster mit Belastungen umzugehen, sind aber auch entscheidend geprägt von vorhandenen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen.
Stress wird durch Stressreize oder sogenannte Stressoren ausgelöst. Was ein Mensch bewältigen kann, hängt auch von der Dauer, Intensität und Anzahl der Stressoren und anderer Belastungen am Arbeitsplatz ab.
Als potentielle Stressoren am Arbeitsplatz gelten:
Psychisch-mentale Stressoren
- z.B. Überforderung durch die Leistungsmenge bzw. das Arbeitstempo oder den Arbeitsinhalt
- Unterforderung, weil der Arbeitsinhalt nicht den vorhandenen Qualifikationen entspricht
- widersprüchliche Arbeitsanweisungen
- ständige Unterbrechungen
- unvollständige Informationen
- mangelhafte Rückmeldungen
- unklare Zielvorgaben
- Leistungs- und Zeitdruck
- Angst vor Misserfolg und Kontrolle
- hohe Verantwortung für Personen oder Werte
- ungenügende Einarbeitung
- unklare Zuständigkeiten
- Angst vor Arbeitsplatzverlust
Soziale Stressoren
- z.B. fehlende Anerkennung und Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte
- schlechtes Betriebsklima
- Konflikte
- Konkurrenzdruck
- isoliertes Arbeiten
Physische Stressoren
- z.B. Lärm
- Kälte bzw. Hitze
- Nacht- und Schichtarbeit
- falsche Beleuchtung
Mobbing gilt als eine extreme Form sozialer Stressoren.
Unsichere Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit zählen mit zu den stärksten Stressoren. Deshalb beginnt ein wirksamer Arbeits- und Gesundheitsschutz bereits bei der sozialverträglichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses und nicht erst bei der Schaffung menschengerechter Arbeitsbedingungen. Herzinfarkt keine Managerkrankheit
Die Ergebnisse einer Studie zeigen, dass berufliche Tätigkeiten, die durch monotone Arbeit, ständigen Zeitdruck, geringe Qualifikationserfordernisse und eingeschränkte Handlungs- und Entscheidungsspielräume charakterisiert sind, das Herzinfarktrisiko deutlich erhöhen. Sind die Erholungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, steigt dieses Risiko weiter an. Anspruchsvolle Tätigkeiten mit hohen Entscheidungsspielräumen sowie vielfältigen komplexen Aufgaben gehen dann mit einer erhöhten Infarktgefahr einher, wenn sie regelmäßig unter starkem Zeitdruck erledigt werden müssen oder ständig mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen sind. Außerdem erhöhen regelmäßige Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden.
Psychische Ermüdung
Von psychischer Ermüdung spricht man, wenn die psychische und körperliche Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt ist und deshalb die Leistungsfähigkeit sinkt, Fehler zunehmen und die Qualität der Arbeit darunter leidet. Die Betroffenen spüren ein mehr oder weniger starkes Müdigkeitsempfinden und müssen sich vermehrt anstrengen, um die geforderte Leistung erbringen zu können. Diese Mehrbeanspruchung verstärkt wiederum die Ermüdung und es kann ein Teufelskreis von Überforderung und Ermüdung entstehen, der chronische Züge bekommt und die Erholungsfähigkeit stark beeinträchtigt.
Psychische Ermüdung entsteht durch ein Missverhältnis zwischen Arbeitsanforderungen und Erholungsmöglichkeiten. Zu psychischer Ermüdung kommt es bspw. durch das Arbeitstempo, überlange und ungünstig gelegene Arbeitszeiten und ständigen Zeitdruck. Auch hoher Verantwortungsdruck und Informationsüberflutung können dazu führen. Sie wirkt sich vor allem dann längerfristig gesundheitsschädigend aus, wenn keine ausreichenden Regenerationsmöglichkeiten bis zum nächsten Arbeitseinsatz bestehen. "Arbeiten ohne Ende" stellt eine solche Gefährdung dar. Gerade auch in kommunikationsintensiven Berufen, in denen die Beschäftigten mit hohem persönlichem Engagement bei der Sache sind beziehungsweise Emotionen (z.B. Pflegebereich) eine Rolle spielen, lauern besondere Gefahrenmomente, die zudem das Entstehen des "Burnout-Syndroms" begünstigen. Burnout kennzeichnet einen Zustand emotionaler Erschöpfung. Gefährdet sind auch jene, die sich besonders mit ihrer Arbeit identifizieren und eine Kette endloser beruflicher Frustrationen erleben müssen oder sich bspw. durch betriebliche Umstrukturierungen in ihrem Status oder gar ihrer beruflichen Existenz bedroht fühlen.
Hauptansatzpunkte zur Verminderung der Ermüdung:
- Die Intensität und Dauer der Arbeitsbelastung reduzieren
- Die Verteilung der Arbeitszeit z.B. durch die Einführung von Kurzpausen verändern. Mehrarbeit bzw. Überstunden durch Freizeitausgleich kompensieren. Nacht- und Schichtarbeit nach arbeitswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen gestalten
Ermüdungsähnliche Zustände
Darunter leiden Menschen, die abwechslungsarme Tätigkeiten ausführen. Die o.g. Norm unterscheidet drei Arten: Monotonie, herabgesetzte Wachsamkeit und psychische Sättigung.
Monotonie
Der Zustand der Monotonie entsteht durch langandauernde, einförmige und sich wiederholende Arbeitsaufgaben z.B. am Fließband. Das menschliche Arbeitsvermögen ist qualitative unterfordert. Monotonie geht häufig mit Schläfrigkeit, Müdigkeit, Leistungsabfall und -schwankungen einher. Die Reaktions- und Umstellungsfähigkeit lässt nach und die Herzschlagfrequenz nimmt ab.
Beispiele für Gegenmaßnahmen:
- Mehr Abwechslung in die Tätigkeit bringen (z.B. durch Job Rotation)
- Arbeitsinhalte erweitern (z.B. durch "Job Enlargement") oder
anreichern (z.B. durch "Job Enrichment") - Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten der Beschäftigten fördern
- Arbeitsumgebung ergonomisch gestalten
- Herabgesetzte Wachsamkeit (Vigilanz)
Sie tritt bei abwechslungsarmen Beobachtungstätigkeiten (z.B. Anlagenüberwachung) auf. Je länger diese Arbeit dauert und je seltener aktive Eingriffe verlangt werden, desto massiver entsteht dieser Zustand. Monotonie und herabgesetzte Wachsamkeit unterscheiden sich zwar in den Entstehungsbedingungen, nicht aber in den Auswirkungen.
Beispiele für Gegenmaßnahmen:
- Passive Beobachtungstätigkeiten zeitlich begrenzen
- Erholungspausen einführen oder andere Aufgaben zuteilen, die Aktivität erfordern
- Technische Arbeitmittel ergonomisch gestalten
Psychische Sättigung
Dies kennzeichnet einen Zustand der Nervosität und Unruhe sowie der Ablehnung einer sich wiederholenden Tätigkeit oder Situation. Es herrscht das Gefühl des "Auf-der-Stelle-Tretens" oder des "Nicht-weiter-Kommens". Weitere Symptome sind Empfindungen von Ärger und Überdruss sowie die Tendenz sich zurückzuziehen. Deutlicher Leistungsabfall ist die Folge.
Beispiele für Gegenmaßnahmen:
- Möglichkeiten zur Rückmeldung über die geleistete Arbeit schaffen
- Transparenz in den Arbeitsablauf bringen, um so das Bewusstsein für den Sinn der eigenen Tätigkeit im Gesamtzusammenhang zu stärken
- Für mehr Chancen zu Mitsprache und Beteiligung der Beschäftigten sorgen
Langfristige Folgen psychischer Fehlbelastung
Häufig beeinträchtigenden Beanspruchungen im Arbeitsprozess können langfristig zu gesundheitlichen Beschwerden und Krankheiten führen.
Auftreten können bspw.
- Herz-/Kreislauferkrankungen
- Magen- und Darmbeschwerden und -erkrankungen
- Muskel- und Skeletterkrankungen
- psychische Störungen (z.B. Depressionen, Nervosität, Konzentrationsstörungen, Suchtverhalten u. a.)
- Hörsturz
- ein schwaches Immunsystem (begünstigt Infektionskrankheiten wie Erkältungen aber auch Krebs)
Arbeitsschutzrecht
Mit dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) wurde erstmals eine wirksame Handhabe geschaffen, um psychische Belastungen in den gesetzlichen Arbeitsschutz einzubeziehen. So definiert es Maßnahmen zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit explizit als Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die vom Arbeitgeber zu treffen sind (§ 2). Ein solches ganzheitliches Arbeitsschutzverständnis, mit dem Ziel der menschengerechten Arbeitsgestaltung, umfasst psychische Faktoren. Bei der Gefährdungsbeurteilung sind ebenfalls psychische Faktoren zu berücksichtigen (§ 4, § 5). Zumindest mittelbar haben die in § 5, Absatz 3 genannten Aspekte (wie Arbeits- und Fertigungsverfahren, Arbeitsabläufe, Arbeitzeit und Qualifikation) Einfluss auf die psychische Belastungssituation am Arbeitsplatz.
Bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen gemäß Arbeitsschutzgesetz hat der Arbeitgeber bei Bildschirmarbeitsplätzen insbesondere mögliche Gefährdungen des Sehvermögens sowie körperliche Probleme und psychische Belastungen zu ermitteln und zu beurteilen. Das sieht der Anhang der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) vor.
Zur Ermittlung der psychischen Belastungen ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach den Ursachen zu fragen, die zu Stress, psychischer Ermüdung, Monotonie, herabgesetzte Wachsamkeit, psychische Sättigung mit den entsprechenden Beeinträchtigungen und Gefährdungen führen. Dazu liegen inzwischen zahlreiche Konzepte und Instrumente (z.B. in Form von Handlungsanleitungen, Fragebögen oder Checklisten) vor.
Die Gefährdungsbeurteilung ist allerdings kein Selbstzweck, sondern auf ihrer Grundlage sind Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zum Schutz vor psychischen Belastungen zu ergreifen, die auf gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Diese sind wiederum auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.