Deutsch Intern
Career Centre

Prof. Dr. Silvio Dahmen, Physik, Universidade Federal do Rio Grande do Sul

10/05/2015

Aktuell: Brasilianer und ehemaliger Humboldt-Stipendiat Studium: Physik

Prof. Dr. Silvio Dahmen, Experte für statistische Physik (Foto: Privat)

Prof. Dr. Silvio Dahmen ist Experte für statistische Physik. Das hält den Brasilianer und ehemaligen Humboldt-Stipendiaten an der Uni Würzburg nicht davon ab, die Tabellen verschiedener nationaler Fußball-Ligen miteinander zu vergleichen. Für die Fußball-WM sind seine Ergebnisse allerdings nicht verwertbar.

Silvio Dahmen kam 2006 als Humbold-Stipendiat ein Jahr lang an die Universität Würzburg. Heute ist er Professor am Institut für Physik in seinem Heimatland Brasilien an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul. Seine Forschungsgebiete sind die statistische Physik, die Wissenschaftsgeschichte und die Vermittlung von Wissenschaft.

 


Professor Dahmen, gut einen Monat lang läuft demnächst im fußballbegeisterten Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft: Ist dann überhaupt noch normales Leben möglich? Und wie sieht es an Ihrer Universität aus: Geht der Alltag normal weiter?

Nein, der Uni-Alltag, wie der des gesamten Landes, wird fast zum Stillstand kommen. Unser Semester fing deshalb schon gute zwei Wochen früher an als gewöhnlich, weil an bestimmten Spieltagen der Betrieb ruhen wird, und wir trotzdem ein ziemlich strenges Semesterprogramm durchziehen müssen. Dank des vorverlegten Starts verlieren wir nun keinen Arbeitstag. Ähnliches gilt auch für viele Betriebe in Brasilien: Da werden die Mitarbeiter an Spieltagen wohl Überstunden abfeiern.

 


Sie waren von 2006 bis 2007 an der Universität Würzburg. Welche Erinnerungen stehen an erster Stelle, wenn Sie an Ihre Zeit hier zurückdenken?

Die Wege vom Frauenland bis Randersacker über den Weinberg; die Bibliothek und der Campus am Hubland, wo ich viele Stunden verbracht habe, die versteckten Ecken in der Stadtmitte und der Blick auf die Festung. Kurz gesagt, ein Jahr mit optimalen Arbeitsbedingungen in einer Stadt, in der man das Leben richtig genießen kann.

 


Sie waren Humboldt-Stipendiat in Würzburg und sind heute Professor an einer der führenden Universitäten in Brasilien. Warum haben Sie sich damals für Würzburg entschieden?

Einer meiner besten Freunde aus meiner Doktorandenzeit, Haye Hinrichsen, erhielt 2003 eine Professur am Lehrstuhl für Theoretische Physik III, dem ersten Lehrstuhl Deutschlands für computergestützte Theoretische Physik. Da wir schon einige Artikeln zusammen geschrieben hatten, kam für mich natürlich ein längerer Aufenthalt in Würzburg in Frage. Ein glücklicher Zufall hat auch eine große Rolle gespielt: Es stellte sich nämlich heraus, dass eine Kollegin meiner Frau, Franziska Klügl, zur gleichen Zeit an ihrer Habilitation an der Uni Würzburg arbeiten würde. Wir hatten 2006 dann ein Sabbatical-Jahr und kamen beide als Humboldt-Stipendiaten nach Würzburg.

 


Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen der Lehre in Deutschland und in Brasilien? Oder gleicht sich das Studium hier wie dort?

Mit der Einführung des Bachelors in Deutschland sind zwar die strukturellen Unterschiede zwischen dem Physikstudium in Brasilien und Deutschland sehr klein geworden, aber bei uns fängt man normalerweise ein Studium im Alter von 17 Jahren an. Das bedeutet, die Studenten brauchen mehr Zeit, bis sie sich eingewöhnt haben und lernen, selbständig zu arbeiten und kritisch zu denken. Deswegen benötigen wir als Lehrer mehr Zeit dafür, den Studenten ein gewisses Maß an Vorkenntnissen beizubringen und sie in die neue Denkweise einzuleiten. Aber nachdem sie diese Schwelle überwunden haben, läuft alles einigermaßen wie in Deutschland. Ich habe Vorlesungen in Würzburg gehalten und habe da nichts anders gemacht als in Brasilien. Ich konnte auch keine Unterschiede im Interesse der Studierenden oder in ihren Leistungen beobachten. Vielleicht haben die Würzburger Studenten, die meine Vorlesung besucht haben, meine Vortragsweise anders empfunden, aber bis heute hat sich keiner gemeldet.

 


Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die „Statistische Physik“. Was dürfen wir uns denn darunter vorstellen?

Die Welt besteht aus Atomen, deren Eigenschaften wir sehr gut kennen. Aber wenn man mehrere Atomen zusammen bringt und daraus einen makroskopischen Gegenstand baut, dann entstehen Naturphänomenen oder Eigenschaften, die sich einem direkten Zusammenhang mit den Eigenschaften eines einzelnen Atoms zu entziehen scheinen. Ziel der Statistischen Physik ist es deshalb Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe wir die Eigenschaften von gewöhnlichen Gegenständen prinzipiell aus den Eigenschaften einer riesigen Zahl von Atomen „ableiten“ können. Wichtig dabei ist das Wort „riesig“. Ein Liter Wasser zum Beispiel besteht aus eine unglaublich großen Zahl von Wassermolekülen, die wir nicht einzeln behandeln können. Aber mit Hilfe einiger Aussagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung – und einiger physikalischer Prinzipien – sind wir in der Lage, etwas über das statistische Verhalten dieser Gesamtheit zu sagen.

 


Sie erforschen aber nicht nur das Verhalten von einem Liter Wasser?

Nein, nein. Ich beschäftige mich beispielsweise seit kurzem intensiv mit Anwendungen statistischer Methoden auf Soziale Netzwerke. Gemeinsam mit Kollegen aus der Coventry University in England versuche ich, Aussagen über die Struktur bestimmter „literarischer“ Netzwerke zu machen, wie man sie etwa in der Ilias von Homer findet. Und mit meinen Kollegen aus Würzburg untersuche ich Grundfragen der Theoretischen Physik, beispielsweise die Frage, ob man Quantenphänomene mathematisch anders darstellen kann.

 


Ein weiterer Forschungsgegenstand von Ihnen ist die Wissenschaftsgeschichte. Wie ist es denn dazu gekommen?

Mein Interesse für die Wissenschaftsgeschichte rührt aus meinem Interesse für Kulturgeschichte. Mich fasziniert, wenn mehrere Umstände zu einer Erfindung oder einer neuen Theorie führen. Nachdem ich nicht nur in Brasilien, sondern auch in Deutschland studiert und gearbeitet habe, hatte ich die Gelegenheit, diese Geschichte hautnah zu erleben und damit ständig konfrontiert zu werden. Und das gilt nicht nur für Wissenschafts- oder Kulturgeschichte, sondern für Geschichte allgemein.

 


Wissenschaftsvermittlung ist auch ein Thema, mit dem Sie sich beschäftigen. Worum geht es Ihnen dabei?

Die Vermittlung der Wissenschaft kommt aus dem Bedürfnis, die Begeisterung für Wissenschaft mit anderen Menschen zu teilen. Ich empfinde es auch als eine Pflicht: Meine eigene Arbeit ist sehr spezialisiert, und dafür interessieren sich vielleicht nur diejenigen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Aber Wissenschaft ist viel mehr als das, was wir Physiker machen. Genau deswegen beschäftige ich mich zur Zeit mit den „Philosophes“ hinter der Encyclopédie von Diderot und D'Alembert, vor allem mit den mathematischen Essays von Diderot. Die Encyclopedisten wollten viel mehr als einen Wissenskatalog schreiben. Wie Diderot selbst gesagt hat in dem Prospectus der Encyclopédie: „Wir wollen die gewöhnliche Denkweise des Menschen ändern.“ Die Encyclopedisten haben dies getan, indem sie versucht haben, den Zusammenhang verschiedener Fächer durch Kreuzverweise der Einträge hervorzuheben. Sie wollten die Welt ändern. Mich interessiert die Frage: Können wir das auch, und wenn ja, wie und für wen?

 


Und dann haben Sie auch noch vor wenigen Wochen einen Artikel in der Fachzeitschrift Physica A zum Thema „Fußball und Physik“ veröffentlicht. Wie kommt ein Physiker dazu?

In dem Artikel geht darum, statistische Regelmäßigkeiten zwischen verschiedenen nationalen Fußballmeisterschaften zu zeigen: Die Tabellenstände verschiedener Mannschaften während der Meisterschaft sehen statistisch betrachtet nämlich sehr ähnlich aus – und das unabhängig davon, ob man die brasilianische, spanische, englische oder französische Meisterschaft betrachtet. Leider hatten wir keinen Zugang zu den Daten der ersten Bundesliga in Deutschland.

 

Könnten unsere Nationalmannschaften aus dieser Arbeit wertvolle Erkenntnisse für die Weltmeisterschaft ziehen?

Nein, das ist unwahrscheinlich. Bei den Nationalmannschaften müsste man schon die Vorgehensweise ändern, schließlich ist die Zahl der Spiele während der Weltmeisterschaft viel kleiner als bei einer normalen Meisterschaft. Das erschwert statistische Aussagen enorm. In diesem Fall könnte ein einzelner Spieler oder das Abschneiden in einem einzigen Spiel das Endresultat drastisch ändern. Und das ist ja eigentlich auch gut so!

 


Werden Sie die Spiele in Brasilien anschauen?

Ich bin kein großer Fußballfan, aber die Weltmeisterschaft ist schon etwas Besonderes und mir macht es dann Spaß, einige Spiele zu verfolgen.

 


Vielen Dank für das Gespräch!

By Michaela Thiel

Back