Intern
Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz

Nachbericht zum Vortrag "Polizei und Antiziganismus"

16.06.2020

Anja Reuss, die politische Referentin des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, hielt am 04. Juni an der Uni Würzburg via Zoom einen Vortrag über Polizei und Antiziganismus im Rahmen des GSiK-Programms.

Anja Reuss, die politische Referentin des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, hielt am 04. Juni an der Uni Würzburg via Zoom einen Vortrag über Polizei und Antiziganismus im Rahmen des GSiK-Programms.
Antiziganismus, also Vorurteile gegenüber, und Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja, ist tief in Europa verwurzelt. Er begann zu dem Zeitpunkt, als die Sinti*zze und Rom*nja vor ca. 600 Jahren nach Mitteleuropa kamen, und wirkt bis heute fort. Antiziganismus zieht sich durch alle Bereiche der Gesellschaft, und wurde trotz der 500.000 ermordeten Sinti und Roma im Holocaust kaum aufgearbeitet. Die Stigmatisierung und die strukturelle und institutionelle Diskriminierung stellen nach wie vor die Lebensrealität der mit 12 Millionen Angehörigen größten Minderheit Europas dar. Die sehr späte Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma, 1982 unter Helmut Schmidt, zeigt exemplarisch, wie wenig Deutschland sich mit seinem Antiziganismus auseinandersetzte. Auch eine aktuelle Debatte um ein Bauvorhaben der Deutschen Bahn, welches vorsieht, das lang erkämpfte Denkmal für die im Porajmos (der Begriff für den Völkermord auf Romanes) ermordeten Sinti*zze und Rom*nja abzureißen bzw. zu verlegen, zeigt die Brisanz des Themas und die Dringlichkeit sich endlich verstärkt damit auseinanderzusetzen.
Anja Reuss konzenrierte sich in ihrem Vortrag auf die Kontinuitäten polizeilicher Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland. Sie gab einige geschichtliche Einblicke zu Polizei und Antiziganismus, und erläuterte anhand von aktuellen Studien, Kriminalstatistiken, polizeilichen Dokumenten und Strafverfolgungsfällen die anhaltende gesetzeswidrige Kriminalisierung, Rassifizierung und Diskriminierung von Sinti und Roma. Die deutsche Polizei spielt seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle in der Erfassung und Verfolgung von Sinti und Roma, so auch in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in München 1953 die „Landfahrerzentrale“ eröffnet, die nichts anderes darstellte als die direkte Nachfolgeorganisation der ehemalige „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ (RZBZ), die maßgeblich für Erfassung und Deportationen von Sinti und Roma im Nationalsozialismus zuständig war. Auch personell wurden die führenden Personen nicht ersetzt. Die polizeiliche Diskriminierung wurde so am Leben erhalten; Vorurteile und Feindbilder blieben bestehen und die ethnische Kennzeichnung und Sonderkategorisierung wurden weiter verwendet. Die Kriminalisierung von Sinti und Roma durch diskriminierende Polizeipraktiken wie Racial Profiling und verfassungswidrige ethnische Kennzeichnung in Polizeiakten bis hin zu Sammlungen von DNA-Proben werden in Deutschland nach wie vor praktiziert. So wurde bei den Fahndungen zum Mordfall Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn jahrelang gegen Sinti und Roma ermittelt, die kollektiv verdächtigt wurden. Der Mord konnte später dem NSU zugeordnet werden. Doch in den Ermittlungen spiegelten sich die Vorurteile gegen Sinti und Roma beispielhaft wider; es wurde alles darangesetzt, sogenannte „Familienclans“ aufzudecken, womit potenzielle Kriminalität durch Verwandtschaft suggeriert wurde, außerdem durch die Konzentration der Ermittlung auf Sinti und Roma die Idee einer Gruppenkriminalität verfolgt wurde. Alle Mitglieder der „Gruppe“ wurden verdächtig und essentialisiert als potenziell kriminell. Diese Praktiken verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot. Studien aus den letzten Jahren belegen (hier ist besonders die Studie von Markus End, „Antiziganismus und Poizei“, zu erwähnen) dass es in der Polizei nach wie vor ein strukturelles Problem mit Antiziganismus gibt. Dies zeigte sich z.B., als in der Kriminalstatistik der Berliner Polizei ausgeführt wurde, dass es sich bei Tatverdächtigen eines bestimmten Falles  „überwiegend um Angehörige der Volksgruppe der Sinti und Roma“ handelt, was fehl am Platz in einer Kriminalstatistik ist.
Anja Reuss war so freundlich, uns eine Liste an Materialen zur vertieften Beschäftigung mit dem Thema bereitzustellen. Wer interessiert daran ist, hat hier die Möglichkeit, sich weiter zu informieren.


https://zentralrat.sintiundroma.de/antiziganismus-und-polizei/
https://zentralrat.sintiundroma.de/themenseite-dna/
https://zentralrat.sintiundroma.de/zentralrat-erneuter-kritik-am-berliner-innensenator-und-unterstreicht-gespraechsbedarf-senator-geisel-muss-seiner-rechtsstaatlichen-verantwortung-jetzt-nachkommen/
https://www.sueddeutsche.de/panorama/diskriminierung-racial-profiling-antiziganismus-polizei-roma-sinti-1.4889941
https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/fullscreen/10746/position-mit-abstand-5/10747

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