Forschung

Wo man weltweites Neuland betritt
Würzburger Botaniker erforschen das völlig unbekannte Innenleben von Pflanzen

Seit sechs Jahren beschäftigt sich Dr. Sönke Scherzer mit Pflanzenphysiologie. Das tut er in einem wunderschönen Ambiente, nämlich im Botanischen Garten in Würzburg. Dort, wo Kakaobäume, Kakteen, Orchideen und Arzneipflanzen wachsen. „Ich kenne allerdings von den wenigsten Pflanzen die Namen“, lacht der 39-Jährige. Denn obwohl Scherzer Botaniker ist, besteht seine Aufgabe nicht darin, Pflanzen zu bestimmen. Scherzer erforscht Pflanzen. Er will wissen, wie sie „ticken“.


Das ist weithin unbekannt, obgleich seit vielen Jahrhunderten Pflanzenforschung betrieben wird. Schon in der Antike stellten Gelehrte wie Aristoteles oder Theophrast Beobachtungen zur Physiologie von Pflanzen an. Zu den berühmtesten Pflanzenphysiologen des 19. Jahrhunderts zählt Julius Sachs, nach dem der Platz benannt wurde, an dem der Würzburger Botanische Garten liegt. Sachs, der 1897 in Würzburg starb, gilt als Begründer der experimentellen Pflanzenphysiologie. In seinen Fußstapfen stehen Sönke Scherzer und sein Chef, Professor Rainer Hedrich, Inhaber des Lehrstuhls für Molekulare Pflanzenphysiologie und Biophysik (Botanik I).


Wer Pflanzenphysiologie betreiben will, benötigt mehr als eine einzige Qualifikation. Man muss gut in Mathe sein, sich in Chemie und Physik auskennen sowie technisch versiert und vor allem kreativ sein. Scherzer brachte diese Fähigkeiten mit, als er 2013 begann, in die Forschungen an Hedrichs Lehrstuhl einzusteigen. Wobei er kein klassischer Biologe ist: „Ich habe in Würzburg Biotechnologie studiert.“ Auch dieses Studium vermittelt Kenntnisse über pflanzliche Zellen, Enzyme, Ionen und Membranen.

Sönke Scherzer beschäftigt sich mit fleischfressenden Pflanzen, hier mit einer Kannenpflanze.

Die Arbeit im Botanischen Garten reizte Scherzer, weil hier weltweit Neuland betreten wird. „Wir erforschen die elektrischen Signale zur Reizweiterleitung bei Pflanzen“, erläutert der Naturwissenschaftler, der gerade dabei ist, sich zu habilitieren. „Aktionspotenziale“ nennt man diese Signale, die immer dann ausgelöst werden, wenn die Pflanze gereizt wird. „Diese Signale gibt es in ausnahmslos jeder grünen Pflanze“, betont Scherzer. Ein von einer Kuh abgeknabberter Grashalm zum Beispiel leitet durch diese Signale einen Wundheilungsprozess ein. Wie das genau funktioniert, ist allerdings völlig unbekannt. Was daran liegt, dass die Aktionspotenziale schwer zu messen sind.


Eine harte Nuss

Würzburgs Wissenschaftler müssen sich richtig reinhängen, um die harte Nuss „Signaltransport“ zu knacken, können sie doch auf fast nichts aufbauen. Kein Mensch ahnte zu Beginn des Projekts, welche Gene dafür verantwortlich sein könnten, dass elektrische Signale in einer Pflanze ausgelöst werden. Die meisten Pflanzen sind auch ungeeignet dafür, das Rätsel „Signalübertragung“ zu lösen. Scherzer: „Im Grashalm zum Beispiel sind die Signale einfach viel zu schwach.“ Mit der Venusfliegenfalle fanden die Würzburger Forscher im Jahr 2010 eine fleischfressende Pflanze, die als Studienobjekt hervorragend taugt. Denn bei ihr lassen sich die Signale sehr gut messen.

„Die Signale werden letztlich über Kalzium in Hormone übersetzt.“

Sönke Scherzer

Noch sind eine Menge Schwierigkeiten zu meistern, bevor die Signalweiterleitung aufgeklärt ist. „Doch wir sind schon sehr weit“, sagt Scherzer. So fanden die Wissenschaftler um Pflanzenforscher Hedrich heraus, dass sowohl Kalzium als auch ein „Jasmonsäure“ genanntes Pflanzenhormon eine wichtige Rolle dabei spielen, dass elektrische Signale in der Pflanze transportiert werden. Scherzer: „Die Signale werden letztlich über Kalzium in Hormone übersetzt.“ Anhand von Mutanten, bei denen die Weiterleitung gestört ist, konnte gezeigt werden, dass der Signaltransport durch das Aufsprühen von Jasmonsäure wieder funktioniert.


Um Erkenntnisse zu gewinnen, können Forscher nicht nach Schema F vorgehen. Allein die Frage, mit welcher Technik Antworten auf Unbekanntes gefunden werden könnten, bereitet Scherzer zufolge erhebliches Kopfzerbrechen. Die im Würzburger Labor angewandten Methoden gibt es nirgendwo von der Stange zu kaufen. „Wir haben eigene Werkstätten“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter. Dort basteln Techniker nach Anweisung der Forscher Versuchsanordnungen, um den Geheimnissen der Pflanzen auf die Spur zu kommen. Tipps gibt es auch von anderen Forschern. „Ich war zum Beispiel 2014 auf Tasmanien, um dort eine spezielle Strategie kennen zu lernen“, erzählt Scherzer.


Manchmal braucht man etwas Glück

Um naturwissenschaftlich hervorragende Arbeit leisten zu können, ist noch eine weitere Eigenschaft unerlässlich, erklärt Scherzer mit Blick auf Studienanfänger: „Es braucht eine hohe Frustrationstoleranz.“ Schließlich klappt bei weitem nicht jedes Experiment. Es gibt zwischendurch sogar ausgesprochen schwierige Phasen, wo es sehr lange Zeit zu keinem erkenntnismäßigen Quantensprung kommt: „Das kann sogar mal ein ganzes Jahr dauern.“ Dann ist Durchhaltevermögen gefragt. Wobei es auf der anderen Seite gar nicht so selten passiert, dass der pure Zufall einen gewaltigen Schritt auf dem Weg zur Lösung eines Rätsels voranbringt.


Auch Scherzer erlebte das, als er testete, ob Heimchen – Insekten aus der Familie der Grillen – in der Venusfliegenfalle dieselben elektrischen Signale auslösen, die dann auf dem Monitor zu sehen sind, wie wenn die Haare der Pflanze mit einer feinen Nadel berührt werden. Spät abends führte er das Experiment im Labor durch. Er sah: „Es kommt tatsächlich zu denselben Signalen.“ Scherzer schaltete den Monitor zufrieden aus und ging nach Hause, um zu schlafen: „Alles außer dem Bildschirm ließ ich jedoch laufen.“ Als er den Monitor am nächsten Tag wieder anschaltete, sah er, dass sich das Heimchen immer noch bewegte: „Obwohl inzwischen zwölf Stunden vergangen waren.“

Mit einem dünnen Stäbchen berührt Sönke Scherzer die Härchen der Venusfliegenfalle. Das löst ein elektrisches Signal aus.

Durch diesen Zufall kennen die Würzburger Forscher heute den Grund für das unterschiedliche, von der jeweiligen Beute abhängige Verhalten der Venusfliegenfalle. „Als wir sahen, dass das Heimchen bestimmt hundert Mal in der Nacht ein Signal auslöste, fragten wir uns, was denn die Pflanze mit der Fülle an Informationen macht“, erklärt Scherzer. Die gefundene Antwort klingt im Nachhinein simpel: Je stärker und länger sich ein Insekt in der pflanzlichen Falle bewegt und Signale auslöst, umso größer, „checkt“ die Pflanze, muss es sein. Diese Info ist äußerst wichtig: „Denn je mehr Signale gezählt werden, umso mehr Verdauungsenzyme werden ausgeschüttet.“


Forschung gegen den Klimawandel

Heute ist wissenschaftlich unbestritten, dass die Venusfliegenfalle „zählen“ kann. „Doch wie sie das macht, das wissen wir noch nicht“, sagt Scherzer. Daran wird aktuell gearbeitet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) stellte hierfür rund 1,5 Millionen Euro aus dem Reinhart-Koselleck-Programm für besonders innovative Forschung zu Verfügung. Bereits 2010, also zum Auftakt des Venusfliegenfallen-Projekts, gelang es Hedrich, erhebliche Forschungsmittel an Land zu ziehen. Damals bewilligte ihm der Europäische Forschungsrat einen „Advanced Grant“ über 2,5 Millionen Euro. Auch im nächsten und übernächsten Jahr, möglicherweise noch ein ganzes Jahrzehnt wird an der Venusfliegenfalle geforscht. Die Ideen werden den Wissenschaftlern nicht ausgehen, ist sich Scherzer sicher: „Wir haben langfristige Fragestellungen, die wir auch den Studierenden sehr gerne anbieten, zum Beispiel als Thema für Abschlussarbeiten.“


Am Ende leistet jeder Forscher, der sich in der Pflanzenphysiologie engagiert, auch einen wichtigen Beitrag mit Blick auf den Klimawandel. Der nämlich macht es erforderlich, Pflanzen so zu ertüchtigen, dass sie mit Hitze, Trockenheit und versalzenen Böden besser umgehen können als heute. Das wird jedoch nur gelingen, wenn man weiß, wie die Pflanzen ticken.

Text: Pat Christ; Fotos: Pat Christ, Getty Images

Hintergrundbild: Sönke Scherzer beschäftigt sich mit fleischfressenden Pflanzen, hier mit einer Kannenpflanze.

Botanik

Wer sich für Pflanzenphysiologie interessiert, beginnt mit dem Bachelor-Studiengang Biologie. Schon im ersten Semester geht es um pflanzliche Zellen. Im Master-Studiengang bieten die Dozenten des Lehrstuhls für Botanik I die Vorlesung „Biochemie und Biophysik“ sowie Praktika an. Weitere Infos H I E R