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Die EU als postkoloniale Erinnerungsgemeinschaft

Koloniale Romantik und Geschichtsrevision

Nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit zählen viele afrikanische Nationen noch heute zu den Verlierern der Geschichte, was eng mit der Lücke zwischen historischer Realität und Geschichtspolitik in Europa zusammenhängt: So kostete der französisch-algerische Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) ca. 300.000 AlgerierInnen das Leben, während Angehörige der deutschen 'Schutzmacht' zu Beginn des 20. Jhds. in Deutsch-Südwestafrika grausame Menschenversuche durchführten. Doch in Europa wird bis heute ein eher romantisches Bild der Kolonialzeit gezeichnet: Während das französische Parlament 2005 ein Gesetz verabschiedete, wonach Lehrer im Schulunterricht ausschließlich positiv von der Kolonialzeit zu berichten hätten, erkannte die deutsche Bundesregierung den Genozid an den Herero und Nama (1904-1908) im heutigen Namibia erst 2016 widerwillig als Völkermord an.

Antikoloniale Stimmen aus Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst

Debatten um Ausbeutung, Sklaverei und Unterdrückung sucht man in der offiziellen Geschichtspolitik Europas oft vergebens. Parallel hierzu haben sich in den letzten 30 Jahren zivilgesellschaftliche Initiativen gegründet, die für die Übernahme von kolonialhistorischer Verantwortung plädieren: Vereinigungen wie z.B. die französische "Brigade Anti Négrophobie" organisieren Demonstrationen, setzen sich gegen Alltagsrassismus (z.B. Blackfacing, Racial Profiling) ein oder bieten antikoloniale Stadtführungen in den Metropolen Europas an. Auch die historischen Wissenschaften beteiligen sich seit 2000 rege am kritischen Diskurs über die Kolonialvergangenheit, ebenso die Kunst: MusikerInnen wie Baloji und Stromae in Belgien, der in Paris lebende Autor Alain Mabanckou oder deutsche DichterInnen wie May Ayim, Philipp Koepsell und Fatima Moumouni rebellieren gegen das Vergessen.

Forschungsprojekt: Europäische Geschichtspolitik und literarischer Protest

Das laufende Forschungsprojekt "Die EU als postkoloniale Erinnerungsgemeinschaft: Geschichtspolitik und literarischer Protest" untersucht die Zusammenhänge zwischen offizieller Geschichtspolitik und kritischen Debatten in der Gesellschaft. Das Projekt folgt Aleida Assmanns These, dass Europa aufgrund einer engen gemeinsamen Geschichte auch ein gemeinsames geschichtliches Gedächtnis aufweist, welches in Bezug auf die Kolonialisierung jedoch offiziell kaum genährt wird. Die Studie will die Geschichtspolitiken in den EG-Gründungsstaaten Belgien, Deutschland und Frankreich vergleichen und mit der kolonialhistorischen Haltung der EU in Bezug bringen. Anschließend stehen die koloniale Erinnerung und der künstlerische Widerstand in deutschen und französischen Romanen, Gedichten und Theaterstücken im Vordergrund.

AutorInnen

Dr. Julien Bobineau hat Galloromanische Philologie, Öffentliches Recht und Philosophie an der JMU Würzburg studiert. Hiernach wurde der Literatur- und Kulturwissenschaftler mit einer Arbeit zur literarischen Repräsentation von Patrice Lumumba im Jahre 2017 promoviert. Derzeit ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neuphilologischen Institut der JMU Würzburg angestellt und als Regionalreferent mit Schwerpunkt Afrika im International Relations Office derselben tätig.